Bayern Abitur Deutsch LK 2002
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[Bearbeiten] Abiturprüfung 2002
DEUTSCH als Leistungskursfach Arbeitszeit: 300 Minuten
Der Prüfling hat eine Aufgabe seiner Wahl zu bearbeiten. Als Hilfsmittel sind - auch im Hinblick auf Worterklärungen - folgende Wörterbücher zugelassen: Rechtschreibduden nach früherer Schreibung; Wörterbücher nach neuer Schreibung.
[Bearbeiten] AUFGABE I
Erschließung eines poetischen Textes
Erschließen und interpretieren Sie das nachfolgende Gedicht vor seinem zeit- und literaturgeschichtlichen Hintergrund unter Berücksichtigung mythologischer Bezüge! Nutzen Sie den abgedruckten Lexikonartikel als Hilfsmittel!
Vorbemerkung Nelly Sachs, geboren 1891 in Berlin, die seit 1940 in Schweden lebte, gilt als große Dichterin jüdischen Schicksals und erhielt 1966 den Nobelpreis für Literatur. Sie starb 1970 in Stockholm.
Nelly Sachs
Chor der Sterne (1947)
Wir wandernder, glänzender, singender Staub -
Unsere Schwester die Erde ist die Blinde geworden
Unter den Leuchtbildern des Himmels -
Ein Schrei ist sie geworden
Unter den Singenden -
Sie, die Sehnsuchtsvollste
Die im Staube begann ihr Werk: Engel zu bilden -
Sie, die die Seligkeit in ihrem Geheimnis trägt
Wie goldführendes Gewässer -
Ausgeschüttet in der Nacht liegt sie
Wie Wein auf den Gassen -
Des Bösen gelbe Schwefellichter hüpfen auf ihrem Leib.
O Erde, Erde
Stern aller Sterne
Durchzogen von den Spuren des Heimwehs
Die Gott selbst begann -
Ist niemand auf dir, der sich erinnert an deine Jugend?
Niemand, der sich hingibt als Schwimmer
Den Meeren von Tod?
Ist niemandes Sehnsucht reif geworden
Daß sie sich erhebt wie der engelhaft fliegende Samen
Der Löwenzahnblüte?
Erde, Erde, bist du eine Blinde geworden
Vor den Schwesternaugen der Plejaden
Oder der Waage prüfendem Blick?
Mörderhände gaben Israel einen Spiegel
Darin es sterbend sein Sterben erblickte -
Erde, o Erde
Stern aller Sterne
Einmal wird ein Sternbild Spiegel heißen.
Dann o Blinde wirst du wieder sehn!
Pleiaden, die sieben Töchter des Titanen Atlas und der Okeanide Pleione. Ihre Namen waren: Maia (Mutter des Hermes durch Zeus), Elektra (Mutter des Dardanos und des Iasion durch Zeus), Taygete (Mutter des Lakedaimon durch Zeus), Kelaino (Mutter des Lykos durch Poseidon), Alkyone (durch Poseidon Mutter von Hyrieus, Hyperenor und Aithusa), Sterope (Mutter des Oinomaos durch Ares) und Merope (die dem Sterblichen Sisyphos den Glaukos gebar). Nach manchen Überlieferungen heiratete auch Elektra einen Sterblichen, den Korythos, der der Vater ihrer Söhne gewesen sein soll. Nach einer anderen Erzählung verwandelte Artemis die Taygete in eine Hündin, um ihr gegen die Nachstellungen des Zeus beizustehen, und dies war eben die Keryneische Hündin, die Herakles ein Jahr lang jagte und dann dem Eurystheus brachte.
Die Pleiaden waren über den Tod ihrer Schwestern, der Hyaden, so verzweifelt, daß sie sich alle das Leben nahmen und von Zeus als eine Gruppe von sieben Sternen an den Himmel versetzt wurden. Oder man sagte, Zeus habe sie verstirnt, um sie und ihre Mutter Pleione vor Orion zu retten, der sie sieben Jahre lang verfolgt hatte. Auch er wurde zum Sternbild, das für immer den Pleiaden nachzujagen scheint. Einer der sieben Sterne leuchtet schwächer als die anderen; entweder - so glaubte man - ist es Merope, die sich ihrer Leidenschaft für einen Sterblichen schämt; oder Elektra, die sich um das Schicksal Trojas härmt, der Stadt ihres Sohnes. Der Name Pleiaden leitet sich von einem griechischen Wortfür "Taube" oder für "segeln" ab. Die sieben Sterne sind in den Sommermonaten sichtbar, jener Zeit also, die die Griechen und Römer der Schiffahrt vorbehielten.
(Michael Grant und John Hazel, Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, München 1983, 2. Auflage, S 341f.)
[Bearbeiten] AUFGABE II
Erschließung eines poetischen Textes
Erschließen Sie unter Berücksichtigung der sprachlich-stilistischen Gestaltungsmittel die Gesprächsführung des folgenden Szenenausschnitts und arbeiten Sie die Positionen der Dialogpartner heraus! Zeigen Sie, ausgehend von Ihren Ergebnissen, vergleichend auf, wie in einem anderen literarischen Werk der Konflikt zwischen Vertretern unterschiedlicher Generationen gestaltet wird! Gehen Sie dabei auf den jeweiligen zeit- bzw. literaturgeschichtlichen Hintergrund ein!
Vorbemerkung Schillers fünfaktiges Drama "Die Piccolomini "bildet den Mittelteil der Trilogie "Wallenstein. Ein dramatisches Gedicht". Wallenstein, Herzog von Friedland, ist im Dreißigjährigen Krieg oberster Befehlshaber des kaiserlichen Heeres, in dem Octavio Piccolomini als General und sein Sohn Max Piccolomini als junger Offizier dienen. Der vorliegende Szenenausschnitt spielt 1634 in Pilsen, wohin Wallenstein alle ihm unterstellten Heerführer beordert hat. Zwischen dem Kaiserhof und dem Feldherrn bestehen Spannungen, da Wallenstein eigenständig Verhandlungen mit den Reichsfeinden, den Schweden, aufgenommen hat. Der kaisertreue Octavio Piccolomini sucht deswegen das Gespräch mit seinem Sohn Max.
Friedrich Schiller (1759 - 1805)
Die Piccolomini (1799) V. Aufzug, 1. Auftritt
Szene: Ein Zimmer in Piccolominis Wohnung. Es ist Nacht
[...]
OCTAVIO : . Es schmerzt mich, deinen Glauben an den Mann,
Der dir so wohlgegründet scheint, zu stürzen.
Doch hier darf keine Schonung sein - du mußt
Maßregeln nehmen, schleunige, mußt handeln.
- Ich will dir also nur gestehn - daß alles,
Was ich dir jetzt vertraut, was so unglaublich
Dir scheint, daß - daß ich es aus seinem eignen,
- Des Fürsten Munde habe.
MAX : (in heftiger Bewegung). Nimmermehr!
OCTAVIO : . Er selbst vertraute mir- was ich zwar längst
Auf anderen Weg schon in Erfahrung brachte:
Daß er zum Schweden wolle übergehn,
Und an der Spitze des verbundnen Heers
Den Kaiser zwingen wolle -
MAX : . Er ist heftig,
Es hat der Hof empfindlich ihn beleidigt,
In einem Augenblick des Unmuts, seis!
Mag er sich leicht einmal vergessen haben.
OCTAVIO : . Bei kaltem Blute war er, als er mir
Dies eingestand; und weil er mein Erstaunen
Als Furcht auslegte, wies er im Vertraun
Mir Briefe vor, der Schweden und der Sachsen,
Die zu bestimmter Hülfe Hoffnung geben.
MAX : . Es kann nicht sein! kann nicht sein! kann nicht sein!
Siehst du, daß es nicht kann! Du hättest ihm
Notwendig deinen Abscheu ja gezeigt,
Er hätt sich weisen lassen, oder du
- Du stündest nicht mehr lebend mir zur Seite!
OCTAVIO : . Wohl hab ich mein Bedenken ihm geäußert,
30 Hab dringend, hab mit Ernst ihn abgemahnt,
- Doch meinen Abscheu, meine innerste
Gesinnung hab ich tief versteckt.
MAX : . Du wärst
So falsch gewesen? Das sieht meinem Vater
Nicht gleich! Ich glaubte deinen Worten nicht,
Da du von ihm mir Böses sagtest; kanns
Noch wenger jetzt, da du dich selbst verleumdest.
OCTAVIO : . Ich drängte mich nicht selbst in sein Geheimnis.
MAX : . Aufrichtigkeit verdiente sein Vertraun.
OCTAVIO : . Nicht würdig war er meiner Wahrheit mehr.
MAX : . Noch minder würdig deiner war Betrug.
OCTAVIO : . Mein bester Sohn! Es ist nicht immer möglich,
Im Leben sich so kinderrein zu halten,
Wie's uns die Stimme lehrt im Innersten.
In steter Notwehr gegen arge List
Bleibt auch das redliche Gemüt nicht wahr -
Das eben ist der Fluch der bösen Tat,
Daß sie, fortzeugend, immer Böses muß gebären.
Ich klügle nicht, ich tue meine Pflicht,
Der Kaiser schreibt mir mein Betragen vor.
Wohl wär es besser, überall dem Herzen
Zu folgen, doch darüber würde man
Sich manchen guten Zweck versagen müssen.
Hier gilts, mein Sohn, dem Kaiser wohl zu dienen,
Das Herz mag dazu sprechen, was es will.
Max. Ich soll dich heut nicht fassen, nicht verstehn.
Der Fürst, sagst du, entdeckte redlich dir sein Herz
Zu einem bösen Zweck, und du willst ihn
Zu einem guten Zweck betrogen haben!
Hör auf! ich bitte dich - du raubst den Freund
Mir nicht - Laß mich den Vater nicht verlieren!
OCTAVIO : (unterdrückt seine Empfindlichkeit).
Noch weißt du alles nicht, mein Sohn. Ich habe
Dir noch was zu eröffnen.
(Nach einer Pause)
Herzog Friedland
Hat seine Zurüstung gemacht. Er traut
Auf seine Sterne. Unbereitet denkt er uns
Zu überfallen - mit der sichern Hand
Meint er, den goldnen Zirkel (1) schon zu fassen.
Er irret sich - Wir haben auch gehandelt.
Er faßt sein bös geheimnisvolles Schicksal.
MAX : . Nichts Rasches, Vater! O! bei allem Guten
Laß dich beschwören. Keine Übereilung!
OCTAVIO : . Mit leisen Tritten schlich er seinen bösen Weg,
So leis und schlau ist ihm die Rache nachgeschlichen.
Schon steht sie ungesehen, finster hinter ihm,
Ein Schritt nur noch, und schaudernd rühret er sie an.
- Du hast den Questenberg (2) bei mir gesehn,
Noch kennst du nur sein öffentlich Geschäft,
Auch ein geheimes hat er mitgebracht,
Das bloß für mich war.
MAX : . Darf ichs wissen?
OCTAVIO : . Max!
- Des Reiches Wohlfahrt leg ich mit dem Worte,
Des Vaters Leben dir in deine Hand.
Der Wallenstein ist deinem Herzen teuer,
Ein starkes Band der Liebe, der Verehrung
Knüpft seit der frühen Jugend dich an ihn -
Du nährst den Wunsch - O! laß mich immerhin
Vorgreifen deinem zögernden Vertrauen -
Die Hoffnung nährst du, ihm viel näher noch
Anzugehören.
MAX : . Vater -
OCTAVIO : . Deinem Herzen trau ich,
Doch, bin ich deiner Fassung auch gewiß?
Wirst dus vermögen, ruhigen Gesichts
Vor diesen Mann zu treten, wenn ich dir
Sein ganz Geschick nun anvertrauet habe?
MAX : . Nachdem du seine Schuld mir anvertraut!
OCTAVIA (nimmt ein Papier aus der Schatulle und reicht es ihm hin).
MAX : . Was? Wie? Ein offner kaiserlicher Brief.
OCTAVIO : . Lies ihn.
MAX : (nachdem er einen Blick hinein geworfen).
Der Fürst verurteilt und geächtet!
OCTAVIO : . So ists.
MAX : . O! das geht weit! O unglücksvoller Irrtum!
OCTAVIO : . Lies weiter! Faß dich!
MAX : (nachdem er weiter gelesen, mit einem Blick des Erstaunens auf seinen
Vater).
Wie? Was? Du? Du bist -
OCTAVIO : . Bloß für den Augenblick - und bis der König
Von Ungarn bei dem Heer erscheinen kann,
Ist das Kommando mir gegeben -
MAX : . Und glaubst du, daß dus ihm entreißen werdest?
Das denke ja nicht - Vater! Vater! Vater!
Ein unglückselig Amt ist dir geworden.
Dies Blatt hier - dieses! willst du geltendmachen?
Den Mächtigen in seines Heeres Mitte,
Umringt von seinen Tausenden, entwaffnen?
Du bist verloren - Du, wir alle sinds!
OCTAVIO : . Was ich dabei zu wagen habe, weiß ich.
Ich stehe in der Allmacht Hand; sie wird
Das fromme Kaiserhaus mit ihrem Schilde
Bedecken, und das Werk der Nacht zertrümmern.
Der Kaiser hat noch treue Diener, auch im Lager
Gibt es der braven Männer gnug, die sich
Zur guten Sache munter schlagen werden.
Die Treuen sind gewarnt, bewacht die andern,
Den ersten Schritt erwart ich nur, sogleich -
MAX : . Auf den Verdacht hin willst du rasch gleich handeln?
OCTAVIO : . Fern sei vom Kaiser die Tyrannenweise!
Den Willen nicht, die Tat nur will er strafen.
Noch hat der Fürst sein Schicksal in der Hand -
Er lasse das Verbrechen unvollführt,
So wird man ihn still vom Kommando nehmen,
Er wird dem Sohne seines Kaisers weichen.
Ein ehrenvoll Exil auf seine Schlösser
Wird Wohltat mehr, als Strafe für ihn sein.
Jedoch der erste offenbare Schritt -
MAX : . Was nennst du einen solchen Schritt?
Er wird Nie einen bösen tun - Du aber könntest
(Du hasts getan) den frömmsten auch mißdeuten.
OCTAVIO : . Wie strafbar auch des Fürsten Zwecke waren,
Die Schritte, die er öffentlich getan,
Verstatteten noch eine milde Deutung.
Nicht eher denk ich dieses Blatt zu brauchen,
Bis eine Tat getan ist, die unwidersprechlich
Den Hochverrat bezeugt und ihn verdammt.
MAX : . Und wer soll Richter drüber sein?
OCTAVIO : . - Du selbst.
</blockquote> (1) den goldenen Zirkel: die Krone Böhmens. (2) Questenberg: Gesandter des Wiener Kaiserhofs.
[Bearbeiten] AUFGABE III
Erschließung eines poetischen Textes
Erschließen Sie den folgenden Text und interpretieren Sie ihn unter besonderer Berücksichtigung der Haltung des Erzählers sowie der Gestaltung räumlicher und zeitlicher Aspekte! Erarbeiten Sie in einem Vergleich, wie Natur in einem anderen literarischen Werk zur Gestaltung und Deutung eingesetzt wird!
Vorbemerkung Robert Musils Text "Hasenkatastrophe" entstand 1923 und wurde vom Autor in der vorliegenden, leicht überarbeiteten Fassung in das Kapitel 'Bilder' seines 1936 veröffentlichten Bandes "Nachlaß zu Lebzeiten " aufgenommen.
Robert Musil (1880 - 1942)
Hasenkatastrophe Die Dame war gewiß erst am gestrigen Tag aus der Glasscheibe eines großen Geschäfts herausgetreten; niedlich war ihr Puppengesichtchen; man hätte mit einem Löffelchen darin umrühren mögen, um es in Bewegung zu sehn. Aber man trug selbst Schuhe mit honigglatten, wachswabendicken Sohlen zur Schau, und Beinkleider, wie mit Lineal und weißer Kreide entworfen. Man entzückte sich höchstens am Wind. Er preßte das Kleid an die Dame und machte ein jämmerliches kleines Gerippe aus ihr, ein dummes Gesichtchen mit einem ganz kleinen Mund. Dem Zuschauer machte er natürlich ein kühnes Gesicht. Kleine Hasen leben ahnungslos neben den weißen Bügelfalten und den teetassendünnen Röcken. Schwarzgrün wie Lorbeer dehnt sich der Heroismus der Insel um sie. Möwenscharen nisten in den Mulden der Heide wie Beete voll weißer Schneeblüten, die der Wind bewegt. Der kleine, weiße, langhaarige Terrier der kleinen, mit einem Pelzkragen geschmückten weißen Dame stöbert durch das Kraut, die Nase fingerbreit über der Erde; weit und breit ist auf dieser Insel kein anderer Hund zu wittern, nichts ist da als die ungeheure Romantik vieler kleiner, unbekannter, die Insel durchkreuzender Fährten. Riesengroß wird der Hund in dieser Einsamkeit, ein Held. Aufgeregt, messerscharf gibt er Laut, die Zähne blecken wie die eines Seeungeheuers. Vergebens spitzt die Dame das Mündchen, um zu pfeifen; der Wind reißt ihr das kleine Schällchen, das sie hervorbringen möchte, von den Lippen. Mit solch einem stichligen Fox habe ich schon Gletscherwege gemacht; wir Menschen glatt auf den Skiern, er blutend, bis zum Bauch einbrechend, vom Eis zerschnitten, und dennoch voll wilder, nie ermattender Seligkeit. Jetzt hat dieser hier etwas aufgespürt; die Beine galoppieren wie Hölzchen, der Laut wird ein Schluchzen. Merkwürdig ist an diesem Augenblick, wie sehr solche flach auf dem Meer schwebende Insel an die großen Kare und Tafeln im Hochgebirge erinnert. Die schädelgelben, vom Wind geglätteten Dünen sind wie Felsenkränze aufgesetzt. Zwischen ihnen und dem Himmel ist die Leere der unvollendeten Schöpfung. Licht leuchtet nicht über dies und das, sondern schwemmt wie aus einem versehentlich umgestoßenen Eimer über alles. Man ist jedesmal erstaunt, daß Tiere diese Einsamkeit bewohnen. Sie gewinnen etwas Geheimnisvolles; ihre kleinen weichwolligen und -fedrigen Brüste bergen den Funken des Lebens. Es ist ein kleiner Hase, den der Fox vor sich hertreibt. Ich denke: eine kleine, wetterharte Bergart, nie wird er ihn erreichen. Eine Erinnerung aus der Geographiestunde wird lebendig: Insel - eigentlich stehen wir da auf der Kuppe eines hohen Meerbergs? Wir, zehn bis fünfzehn lungernd zusehende Badegäste in farbigen Tollhausjacken, wie sie die Mode vorschreibt. Ich ändere meinen Gedanken noch einmal ab und sage mir, das Gemeinsame wäre nur die unmenschliche Verlassenheit: Verstört wie ein Pferd, das den Reiter abgeworfen hat, ist die Erde überall dort, wo der Mensch in der Minderheit bleibt; ja, gar nicht gesund, sondern wahrhaft geisteskrank erweist sich die Natur im Hochgebirge und auf kleinen Inseln. Aber zu unserem Erstaunen hat sich die Entfernung zwischen dem Hund und dem Hasen verringert; der Fox holt auf, man hat so etwas noch nie gesehen, ein Hund, der den Hasen einholt! Das wird der erste große Triumph der Hundewelt! Begeisterung beflügelt den Verfolger, sein Atem jauchzt in Stößen, es ist keine Frage mehr, daß er binnen wenigen Sekunden seine Beute eingeholt haben wird. Da schlägt der Hase den Haken. Und da erkenne ich an etwas Weichem, weil der harte Riß diesem Haken fehlt, es ist kein Hase, es ist nur ein Häschen, ein Hasenkind. Ich fühle mein Herz; der Hund hat beigedreht; er hat nicht mehr als fünfzehn Schritte verloren; in wenigen Augenblicken ist die Hasenkatastrophe da. Das Kind hört den Verfolger hinter dem Schweifchen, es ist müde. Ich will dazwischenspringen, aber es dauert so lange, bis der Wille hinter den Bügelfalten in die glatten Sohlen fährt; oder vielleicht war der Widerstand schon im Kopf. Zwanzig Schritte vor mir - ich müßte phantasiert haben, wenn das Häschen nicht verzagt stehen blieb und seinen Nacken dem Verfolger hinhielt. Der schlug seine Zähne hinein, schleuderte es ein paarmal hin und her, dann warf er es auf die Seite und grub sein Maul zwei-, dreimal in Brust und Bauch. Ich sah auf. Lachende, erhitzte Gesichter standen umher. Es war plötzlich wie vier Uhr morgens geworden nach durchtanzter Nacht. Der erste von uns, der aus dem Blutrausch erwachte, war der kleine Fox. Er ließ ab, schielte mißtrauisch zur Seite, zog sich zurück; nach wenigen Schritten fiel er in kurzen, eingezogenen Galopp, als erwarte er, daß ihm ein Stein nachfliegen werde. Wir andern aber waren bewegungslos und verlegen. Eine schale Atmosphäre menschenfresserischer Worte umgab uns, wie "Kampf ums Dasein" oder "Grausamkeit der Natur". Solche Gedanken sind wie die Untiefen eines Meeresbodens, aus ungeheuerer Tiefe emporgestiegen und seicht. Am liebsten wäre ich zurückgegangen und hätte die sinnlose kleine Dame geschlagen. Das war eine aufrichtige Empfindung, aber keine gute, und so schwieg ich und fiel damit in das allgemeine, unsichere, sich nun bildende Schweigen ein. Endlich nahm ein hochgewachsener, behaglicher Herr aber den Hasen in beide Hände, zeigte seine Wunden den Hinzugetretenen und trug die dem Hund abgejagte Leiche wie einen kleinen Sarg in die Küche des nahen Hotels. Dieser Mann stieg als erster aus dem Unergründlichen und hatte den festen Boden Europas unter den Füßen.
[Bearbeiten] AUFGABE IV
Erörterung
Vergleichen Sie, ausgehend von einer Begriffsklärung, das Deutschlandbild zweier literarischer Werke! Beziehen Sie dabei den jeweiligen zeit- und literaturgeschichtlichen Hintergrund mit ein!
[Bearbeiten] AUFGABE V
Erörterung
"Für gewöhnlich stehen nicht die Worte in der Gewalt der Menschen, sondern die Menschen in der Gewalt der Worte." (Hugo von Hofmannsthal) Setzen Sie sich mit dieser These auseinander! Beziehen Sie dabei auch persönliche Erfahrungen und Beispiele aus der Literatur mit ein!
[Bearbeiten] AUFGABE VI
Erörterung anhand eines Textes
Arbeiten Sie die zentralen Thesen des nachfolgenden Textes heraus und überprüfen Sie, unter Berücksichtigung Ihrer eigenen Leseerfahrungen, die Behauptung Günter Kunerts, die Literatur habe "als Sinnvermittlerin überhaupt ausgespielt" (Z. 45f.)!
Vorbemerkung Bei dem folgenden Text handelt es sich um den Schlussteil eines in der Wochenzeitung DIE ZEIT (4. Februar 1994) abgedruckten Aufsatzes des Schriftstellers Günter Kunert (geb. 1929).
Günter Kunert
Die Abschaffung der Kultur durch die Zivilisation
[...] Deutsche Autoren sind in einem Übermaß ideologisiert und politisiert wie in keinem anderen Lande sonst. Ob beabsichtigt oder ungewollt, macht sich ein appellatives Moment bemerkbar, das dem Werk selbst schadet. Wir haben die Unschuld des Sehens und Erlebens verloren, indem wir Phänomene sofort weltanschaulich einordnen. Es kann gar nicht anders sein, daß deutsche Schriftsteller, bemüht um Durchleuchtung und Erhellung diverser nationaler Katastrophen, durch diesen Umstand eine gewisse reflektorische Einengung erlitten haben. Daß Schreiben zugleich Entdecken bedeutet, ohne Vorahnung, was dabei herauskommt, ist weithin verlorengegangen. Die alles dominierende Vernunft verweigert dem Schreibenden die Lust am Ungewissen, an der Verselbständigung seiner Figuren, seiner Geschichte. Mit einem Wort gesagt: Die Literatur ist maßvoll, bieder, gut gesonnen, allem Extremen abhold - sie ist, es läßt sich nicht leugnen, ein Spiegelbild ihrer potentiellen Leser, zumindest der Leser, die sich der Autor wünscht und vorstellt. Nur: Mit dem Leser auf dem Schoß oder im Nacken kann man nichts Wesentliches hervorbringen. Eine weitere Gefährdung für die Literatur ergibt sich aus dem Generationsbruch, der einschneidender ist als jemals zuvor. Wie soll man für Menschen schreiben, die heute schon eine andere Sprache sprechen, anders fühlen, anders agieren und reagieren, jenseits unserer tradierten und erschreckend brüchig gewordenen Moral? Wir sind an so etwas wie eine Wasserscheide geraten, an der das Brecht-Wort "Nach uns wird kommen nichts Nennenswertes ..." einen ganz neuen Inhalt zu bekommen droht. Wir stehen nicht vor den Mühen der Ebenen, sondern vor denen des Überlebens, wobei die Literatur wenig zu melden haben dürfte. Der kaum noch erinnerte Philosoph Herbert Marcuse (1) hat vor Zeiten diese Entwicklung prophetisch auf den Punkt gebracht, indem er notierte: "Ein 'Ende der Kunst' ist nur vorstellbar, wenn die Menschen nicht mehr imstande sind, zwischen Wahr und Falsch, Gut und Böse, Schön und Häßlich, Gegenwärtig und Zukünftig zu unterscheiden. Das wäre der Zustand vollkommener Barbarei auf dem Höhepunkt der Zivilisation - und solcher Zustand ist in der Tat historisch möglich." Wer wollte das bezweifeln? Hieße das nicht aber, daß die Schriftsteller eine aussterbende Gattung darstellten? Erst stirbt die Sprache ab, danach ihr Autor. Was jetzt geschieht, ist keineswegs allein ein Verfall der Sprache, es handelt sich vielmehr um eine Bedeutungsreduktion, ein Schrumpfen ihres semantischen Reichtums. Wo ein Wort nur in seinem offenkundigen Signalcharakter verstanden wird, ohne weitere Ahnung seiner zu erschließenden Bedeutungsfülle, da verendet die Literatur in Comicheften. Die Literatur lebt von ihrem ambivalenten Wesen: sie ist ebenso Lebensersatz wie Unterhaltung, Kompensation für den ewigen Mangel wie Erziehung zum differenzierteren Denken. Ob die Literatur noch ihre mittelbaren Aufgaben erfüllt, muß einer umfangreicheren Untersuchung vorbehalten bleiben. Es scheint jedoch, daß die Kultur mit ihrer kompensatorischen Funktion ohnehin nicht länger das gleiche Gewicht besitzt wie ehedem. Vielleicht hat die Literatur als Sinnvermittlerin überhaupt ausgespielt, und ihre Beiläufigkeit folgt aus ihrer verlorenen Position. Welchen "Sinn" sollte sie auch vermitteln, welchen Mangel kompensieren in einer Epoche, in der das Wort "Transzendenz" nicht mehr als ein Fremdwort ist. Unsere historisch frühe Option für das "instrumentale" Denken hat uns eine technizistische Hochzivilisation beschert, an die wir gefesselt sind, auf Gedeih und Verderben. Gedeih hatten wir, das Verderben kommt nun. Nichts bleibt von dem mächtigen Mechanismus, den wir zu steuern glauben, unberührt - warum sollte da die Literatur eine Ausnahme bilden?
(1) Herbert Marcuse (1898 - 1979): amerikanischer Sozialphilosoph deutscher Herkunft.
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